Verkostung im Schokoladenmuseum Köln

Der Zungenatlas

Der Zungenatlas ist Quatsch!

Wir erklären dir warum

Hast du schon mal an einer Weinprobe oder einer anderen Verkostung teilgenommen? Dann ist es leider wahrscheinlich, dass man dir unseren menschlichen Geschmack mit einem „Zungenatlas“ erklärt hat. Nach dieser Theorie gibt es bestimmte Zonen auf der Zunge, die zum Bespiel für süßen oder bitteren Geschmack verantwortlich sind. So soll man Süße nur an der Zungenspitze, bitteren Geschmack nur am hinteren Ende der Zunge schmecken. Kommt dir das bekannt vor? Schade, ist nämlich totaler Quatsch und schon sehr lange widerlegt! Wobei widerlegt das falsche Wort ist, denn tatsächlich war es nie richtig. Folgt man der Spur des Zungenatlas, so fällt oft der Name eines deutschen Forschers, der im Jahr 1901 seine Studie „Psychophysik des Geschmackssinnes“ veröffentlichte, David P. Hänig. Er untersuchte tatsächlich als einer der ersten Forscher systematisch die Wahrnehmung von Geschmack auf unserer Zunge. Dafür pinselte er Kollegi:nnen in seinem Institut verschiedene Lösungen auf die Zunge: eine Zuckerlösung, eine Kochsalzlösung, Salzsäure und Chinin. Sein Ergebnis: Der Mensch kann an der gesamten Zungenoberseite süß, sauer, salzig und bitter wahrnehmen! Der Zungenatlas geht also nicht auf Hänigs Ergebnisse zurück, sondern stellt leider eine folgenschwere Fehlinterpretation dar, bis heute! Die Studie von 1901 kann man übrigens lesen, wenn man sich im Detail für dieses Thema interessiert. Man findet sie zum Beispiel unter diesem Link des Max-Planck-Instituts:

Zur Studie

Geschmackszonen Zunge Zungenatlas

Die Geschmackszonen

In der Originalstudie befinden sich Zeichnungen der Zunge, so ähnlich wie unser Bild hier, die zeigen, dass man an den Rändern der Zunge mehr wahrnimmt, als in ihrer Mitte. Aber nichts in dieser Studie stützt die Theorie von getrennten Geschmackszonen auf der Zunge. Hänig kommt klar zu dem Ergebnis, dass am Zungenrand alle getesteten Geschmacksrichtungen gleich stark wahrnehmbar sind. Diese über einhundert Jahre alte Erkenntnis wird auch von der aktuellen Forschung gestützt, nur geht man in einem Punkt über Hänigs Ergebnisse hinaus. Hänig testete vier Geschmacksrichtungen, die bisher genannten Süß, Sauer, Salzig und Bitter. Von einer weiteren Geschmacksrichtung, als umami bezeichnet, wusste er noch nichts. 

Lebensmittel unterschiedlicher Geschmacksrichtung

Die Geschmacksrichtungen

Die heutige Forschung geht davon aus, dass wir mindestens fünf grundlegende Geschmacksrichtungen auf der Zunge wahrnehmen können:

  1. Süß: Diese Geschmacksrichtung wird durch Zucker und zuckerhaltige Verbindungen ausgelöst. Sie signalisiert oft eine Energiequelle und ist angenehm.
  2. Sauer: Sauerkeit wird durch saure Verbindungen wie Säuren in Früchten und Essig verursacht. Sauer weist auf potenziell ungenießbare oder verdorbene Lebensmittel hin.
  3. Salzig: Salzige Geschmacksrichtungen werden durch Natrium und andere Salze hervorgerufen. Salzigkeit kann auf wichtige Mineralien und Elektrolyte hinweisen.
  4. Bitter: Bitterkeit wird durch verschiedene Verbindungen verursacht, die oft in giftigen Pflanzen oder ungenießbaren Substanzen vorkommen. Sie dient als Schutzmechanismus, um den Verzehr potenziell schädlicher Substanzen zu verhindern.
  5. Umami: Umami ist ein herzhafter oder fleischiger Geschmack, der durch Glutamat und bestimmte Nukleotide ausgelöst wird. Dieser Geschmack ist oft in proteinreichen Lebensmitteln wie Fleisch, Fisch, Käse und Tomaten vorhanden.

Klingt kompliziert, ist es auch!

Die Forschung ist noch weit davon entfernt, unseren menschlichen Geschmack vollständig entschlüsselt zu haben. Es werden weitere mögliche Geschmacksrichtungen diskutiert und auch das Zusammenspiel von Geschmacks- und Geruchssinn ist nicht in allen Details geklärt. Schärfe ist überhaupt kein Geschmack, hier geht es um Hitzerezeptoren…führt uns aber für heute viel zu weit. Nur so viel, findet mal heraus wer 2021 den Medizinnobelpreis bekommen hat, und was Chilis damit zu tun haben. Spitzenforschung in Medizin, Biologie, Psychologie oder Chemie beschäftigen sich mit dem Thema Geschmackswahrnehmung und finden immer Neues heraus! 

Vielleicht erklärt sich dadurch aber auch der Erfolg des Zungenatlas, er ist im Vergleich damit so schön einfach. Er lässt sich aber auch sehr einfach widerlegen. Unter Punkt vier steht, dass Bitterkeit vor potenziell schädlichen Substanzen warnen soll: Achtung! Vielleicht giftig!

Wenn man dem Zungenatlas glaubt, dann werden wir erst ganz hinten im Mund vor dieser Gefahr gewarnt, also quasi kurz vor dem Herunterschlucken. Achtung, vielleicht giftig! – oh… zu spät schon geschluckt. Wahrscheinlich wären wir so ausgestorben…

Unsere Zunge - das Multitalent

Schon mal darüber nachgedacht, warum der Mensch die Zunge rausstrecken kann? Vielleicht um potenziell gefährliche Nahrung außerhalb des Körpers untersuchen zu können. Macht in jedem Fall deutlich mehr Sinn als die Geschmackszonentheorie. Für Interessierte! Eine gute Zusammenfassung des bisherigen Wissens über unseren Geschmack findet ihr zum Beispiel hier: 

Mehr erfahren

Es gibt noch viel mehr gute Videos, aber leider auch immer noch viele falsche! Am meisten Spass macht Geschmack aber natürlich in der Praxis. Vielleicht überzeugst du dich bei einem Besuch im Schokoladenmuseum im Selbstversuch in unseren Verkostungen, wie dein Geschmack funktioniert.

P.S.: Und wenn dir Jemand mit dem Zungenatlas kommt, schick ihn auch zu uns!             

Dieser Beitrag wurde verfasst von:

Ich heiße Olaf und arbeite seit 2002 für das Schokoladenmuseum. Als Museumspädagoge bin ich für unsere Führungen und Verkostungen verantwortlich. Das ist ganz praktisch, weil ich mir ein Leben ohne Schokolade nur sehr schwer vorstellen kann. Mein Jahresverbrauch bleibt aber geheim!

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